Inversionstrauma
Frühzeitige Belastung in der Physiotherapie von Marco Congia
(aus pt_Zeitschrift für Physiotherapeuten_68 (2016) 4
Beim Fußball kennen es alle: Den verletzten Sportler betreuen neben Ärzten auch die Physiotherapeuten; sie beobachten vom Spielfeldrand die Profis, erfassen in kürzester Zeit die Verletzungsmechanismen und entwickeln selbst bei schwersten Verletzungen frühzeitig einen Behandlungsplan, damit der Fußballer schnell wieder einsatzfähig wird. Sie führen die Maßnahmen zielgerichtet aus, vertrauen auf ihre Erfahrungen und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Doch wie sieht die evidenzbasierte Physiotherapie beim Inversionstrauma aus: Sind Schutz, Pause, Eis, Kompression und Hochlagerung immer nötig oder kann schon frühzeitig belastungsabhängig trainiert werden?
Mit Unfällen einhergehende Verletzungen treffen die Menschen häufig unvorbereitet und können zu Beeinträchtigungen führen, die für den Patienten enorme Folgen haben. Diese Folgen lassen sich durch vier typische Leitsymptome in der Traumatologie zusammenfassen: Neben dem Verlust und der Einschränkung der Mobilität bei gleichzeitig reduzierter Belastbarkeit verletzter und heilender Strukturen können insbesondere Schmerzen, Beeinträchtigung der Vitalfunktionen sowie Verarbeitung des Traumas als Folgen identifiziert werden. So beinhaltet die Traumatologie die Behandlung und Erforschung von Unfallverletzungen sowie deren Folgen und die Rehabilitation der Verletzten.
Während die Akuterkrankung primäre Aufgabe des Arztes ist, erfolgt die Nachbehandlung und Rehabilitation oftmals durch Physiotherapeuten. Heutzutage steht eine Reihe an Therapien zur Behandlung von Verletzungen zur Verfügung, allerdings gibt es bislang für viele Probleme keine eindeutige Lösung, wie nachfolgend am Beispiel des Inversionstraumas deutlich wird.
Klinik des Inversionstraumas
Ein Inversionstrauma ist eine Traumatisierung verschiedener Bindegewebsbestandteile der lateralen Fußseite, meist durch eine plötzliche, übermäßige Inversionsbewegung kombiniert mit Plantarflexion oder Dorsalextension des Fußes über das physiologische Bewegungsmaß hinaus. Als Folge des Inversionstraumas kann es zu einer mechanischen oder funktionellen Instabilität kommen, oder auch zu einer Kombination von beidem. Neben Bewegungsschmerz, Funktionsverlust und Druckschmerz können Hämatome und ausgeprägte Schwellungen symptomatisch auftreten. Ein weiteres Problem liegt darin begründet, dass durch das Inversionstrauma verschiedene Begleitverletzungen auftreten können, die eine schnelle Genesung und einen Wiedereinstieg in die sportlichen Aktivitäten beeinflussen können.
Therapiemaßnahmen in der Diskussion
Heutzutage existieren eine Reihe an Therapiemaßnahmen, die jedoch in der Wissenschaft kontrovers diskutiert werden. So beschäftigte sich die Autorengruppe um Clijsen im Jahr 2007 mit der Frage, ob die sportphysiotherapeutische Behandlung akuter Inversionstraumata evidenzbasiert ist. Die Ergebnisse zeigen, dass insbesondere bei der Behandlung von akuten Inversionstraumata in der Regel nur wenige wissenschaftliche Beweise für die Effektivität von physikalischen Anwendungen wie Elektrotherapie, Ultraschall und Kryotherapie vorliegen.
Bisher ging die Forschung davon aus, dass bei einer akuten Sportverletzung das gängige Modell PRICE Anwendung findet, das die Schlüsselvariablen Schutz, Pause, Eis, Kompression und Hochlagerung beinhaltet. Jedoch wurde dessen Relevanz in der Behandlung vor kurzem infrage gestellt, denn es wird vermutet dass die Variable der Pause keinen zusätzlichen Schutz für das Gewebe bringt. In diesem Zusammenhang wurde ein neuer Schwerpunkt miteinbezogen: die optimale Belastung (POLICE). Diese besteht in der zugeführten Belastung des Gewebes, durch die physiologische Anpassungen maximiert werden. Zwar gehört PRICE in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Standardtherapien des Inversionstraumas, allerdings sind viele Autoren der Auffassung, dass die Bezeichnung in POLICE geändert werden sollte.
Es besteht eine moderate Gewissheit darüber, dass die funktionelle Therapie keine eindeutigen Schlüsse bezüglich der Wirksamkeit der spezifischen Behandlungsmethoden gezogen werden. In einer weiteren Literaturstudie untersuchte Seipel 2014 physiotherapeutische Interventionen für Patienten mit (sub-) akutem Inversionstrauma und kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass keine einheitlichen Therapiestrategien für diese Patientengruppe existieren und diese weiterhin kontrovers in der Wissenschaft diskutiert werden. Allerdings konnte eine hohe Evidenz für die Bereiche Orthesen, Manuelle Therapien und Übungen identifiziert werden. Dennoch müssen die Daten aufgrund der methodologischen Schwächen mit Vorsicht interpretiert werden.
Das pt_ INTERVIEW mit Marco Congia gibt es hier: www.youtube.com/user/ptzeitschrift